Ayn Rand für Proletarier?

Adjustierung objektivistischer Deutungen

Wer Ayn Rand vorwiegend aus der deutschen Presse kennt, kann schnell dem weit verbreiteten Eindruck erliegen, dass Ayn Rands Philosophie nichts weiter als eine Rationalisierung, eine theoretische Seligsprechung kruder kapitalistischer Praxis sei. Alles deutet auch oberflächlich in diese Richtung: Letztlich sind die Helden von "Atlas Shrugged" und "The Fountainhead" Unternehmer und ein Architekt - alles Priviligierte und nicht Repräsentanten des Bürgerdurchschnitts oder gar Arbeiter. Passt man an dieser Stelle nicht auf, befindet man sich sofort im marxschen Klassendenken vom arbeitenden Proletarier und dem nicht arbeitenden Kapitalisten. In diesem dichotomen Klassendenken ist das Merkmal "Arbeit" eineindeutig verteilt und mit ihm meist auch die entsprechende moralische Tönung als gut (arbeitend) oder böse (ausbeutend). Nun geht es m.E. Ayn Rand nicht darum, gegebene Strukturen der Ungerechtigkeit zu verewigen, sondern vielmehr Strukturen zu bejahen, die individuelle Schöpferkraft und Tatigsein belohnen und solche zu verneinen, die das Gegenteil erzeugen:

 

"Geld ist das Barometer der Moral einer Gesellschaft. Wenn Sie sehen, daß Geschäfte nicht mehr freiwillig abgeschlossen werden, sondern unter Zwang, daß man, um produzieren zu können, die Genehmigung von Leuten braucht, die nichts produzieren, daß das Geld denen zufließt, die nicht mit Gütern, sondern mit Vergünstigungen handeln, daß Menschen durch Bestechung und Beziehungen reich werden, nicht durch Arbeit, daß die Gesetze Sie nicht vor diesen Leuten schützen, sondern diese Leute vor Ihnen, daß Korruption belohnt und Ehrlichkeit bestraft wird, dann wissen Sie, daß Ihre Gesellschaft vor dem Untergang steht.“ (Ayn Rand: Atlas Shrugged)

 

Wir sehen hier einen Leistungsbegriff konzipiert, der überhaupt nicht postuliert, dass gegenwärtig jeder, der Geld hat, auch gleichzeitig ein Leistungsträger ist. Im Gegenteil darf mit Ayn Rand gefragt werden, ob in der BRD nicht gerade von den gegenwärtigen Parteien eine solche Deckungsgleichheit propagiert wird, obwohl das Geld vorwiegend mit Aktien- oder Immobilienbesitz, Erbschaften und massiver Ausbeutung der Arbeitnehmer erwirtschaftet wird, also eben nicht durch eigene,  produktive Arbeit.

Die Frage ist also nicht, wer Geld besitzt, sondern ob es gute Gründe, wie eben Schöpferkraft und Tätigsein, gibt, warum jemandem mehr Geld zukommt. Und genau dies macht Geld eben zum Barometer der Moral einer Gesellschaft, wie wohl jeder logisch nachvollziehen kann. Und dies, das möchte ich hier betonen, betrifft nicht nur die Burgeoisie. Ein solch moralisch konzipiertes Geldverteilungssystem gilt natürlich für jeden Bürger und genau dies würde im Sinne des Kapitalismusverständnisses von Rand auch die Besitzverhältnisse wieder fluide und gerechter machen.

Nehmen wir dagegen als ein Beispiel die Tariferhöhungen des öffentlichen Dienstes 2020 (https://www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++df6f2fd0-16ad-11eb-bacd-001a4a160129). Hatten die Pflegekräfte während der Corona-Krise eine Gehaltserhöhung unbedingt verdient, wurde die gesellschaftliche Situation von ver.di massiv ausgeschlachtet. Mit der Gießkanne wurde dem öffentlichen Dienst ein Geldsegen bereitet, der zwar Pflegekräfte besonders fokussiert, aber andere Berufsgruppen ohne Nachweis und Operationalisierung von Leistungsgründen begünstigt. Dies wurde sogar von den begünstigten Gruppen selbst ehrlicherweise kritisiert und, wie ich finde, in einer noblen Geste dazu aufgefordert, Prämien zu spenden oder in soziale Fonds einzuzahlen (https://www.haller-kreisblatt.de/region/22963434_Angestellte-im-oeffentlichen-Dienst-wollen-ihre-Corona-Praemie-spenden.html). Eine solche Differenzierung ist von ver.di überhaupt nicht erwünscht und Haltungen dieser Art werden als falsch abgetan. Differenzierungen werden ausdrücklich unter Verweis auf ver.dis Solidaritätsprinzip abgeleht. Solidarität bedeutet hier also die Nivellierung von Leistung, ein "für alle gleich", das im Grunde die Maxime darstellt, dass egal wieviel ich selbst tätig bin, andere immer von meiner Leistung zu profitieren haben, ob ich dies möchte oder nicht. Mit anderen Worten, eine solch verstandene Solidarität ist nach Ayn Rand Altruismus:

 

"Altruismus ist die Doktrin, die verlangt, dass Menschen für andere leben müssen und dass man andere wichtiger nehmen muss als sich selbst. Aber kein Mensch kann für einen anderen leben. Er kann weder seinen Körper noch seinen Geist teilen. Doch der Schmarotzer hat Altruismus als Ausbeutungswaffe benutzt und auf diese Weise die Grundprinzipien menschlicher Moral in ihr Gegenteil verkehrt." (aus The Fountainhead auf Deutsch nach Karsten Kröger; https://groegerkarsten.de/2020/12/26/ayn-rand-deutsch-howard-roarks-verteidigungsrede/)

 

Ist ein solches Gießkannenprinzip schon über Berufsgruppen hinweg zutiefst undifferenziert und damit unmoralisch, so sind es die interindividuellen Leistungsunterschied noch mehr. Nehmen wir als Beispiel den Bereich der Kinderbetreuung. Erst vor Kurzem wurde bekannt, dass in Frankfurt am Main eine Einrichtung der Nezabudka-Kette schließen musste, weil sie keine angemessenen Fachkräfte finden konnte. Dieser Umstand ist jedem in diesem Bereich bekannt und auch in der Presse nachzulesen (https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/region-und-hessen/kitas-in-frankfurt-erzieher-und-gute-mitarbeiter-fehlen-17387700.html).

Wie, darf man fragen, kann in Anbetracht einer derartigen Situation für jede Fachkraft eine Gehaltserhöhung angemessen sein? Leidtragende solcher kollektivistischen Verteilungsideologien sind genau diejenigen, die dringend in einer Gesellschaft gebraucht werden - die Anpackenden, Mitdenkenden, Kreativen, Fleißigen, Schöpferischen - sie alle bekommen permanent durch eine solche Politik vermittelt, dass es sich nicht lohnt, mehr zu tun, als die unzähligen destruktiven Trittbrettfahrer, dass sie nicht mehr wert sind als letztere.

Sie sind aber eben mehr wert und dies ist, was Ayn Rand meiner Meinung nach in ihrer Philosophie stark macht: Moralischer Wert von Personen im Sinne von persönlichem Engagement muss sich in Geldwert als Äquivalent ausdrücken. Tut es dies, ermöglicht es auch einem Arbeiter sich durch Fleiß zu profilieren. Vielmehr aber noch, würde ein solches übergreifendes Leistungsprinzip die starren Grenzen zwischen zugänglichen Berufsmöglichkeiten aufweichen. Menschen sind individuell, bedeutet letztlich, Menschen sind unterschiedlich. Unterschieden zu sein, bedeutet, andere Begabungen zu haben und in je verschiedenen Bereichen besser zu sein als andere. Dies ist zum Teil angeboren (vgl. Pinker 2002: The blank slate), zum großen Teil persönliche Entscheidung, Lernen und Engagement. Akzeptiert man dieses Faktum, gilt es für Firmen und Individuen zu suchen, wer in welchem Bereich beste Leistungen zeigen kann. Durch eine solche Logik der Leistung, und nicht einer Logik der Herkunft, wie sie zurzeit in Deutschland zelebriert wird (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bildungserfolg-bleibt-fuer-sozial-schwache-schueler-schwer-15851887.html), können Klassengrenzen aufgelöst werden, weil Individuen wirklich ihre Arbeit wählen und nicht weil Klassenideologien, Familien oder Institutionen ihnen explizit oder strukturimmanent Arbeit zuweisen. Wird individuelles Schöpfertum bejaht, findet sich hier die Schnittstelle von Leistung, Glück und Utopie (d.h. Auflösung der traditionellen Klassengrenzen):

 

“But you see," said Roark quietly, "I have, let’s say, sixty years to live. Most of that time will be spent working. I’ve chosen the work I want to do. If I find no joy in it, then I’m only condemning myself to sixty years of torture. And I can find the joy only if I do my work in the best way possible to me. But the best is a matter of standards—and I set my own standards. I inherit nothing. I stand at the end of no tradition. I may, perhaps, stand at the beginning of one.” (Ayn Rand: The Fountainhead)

(eigene Übersetzung: "Aber du siehst, sagte Roark leise, "ich habe noch ungefähr 60 Jahr zu leben. Die meiste Zeit davon werde ich arbeiten. Ich habe die Arbeit gewählt, die ich tuen möchte. Wenn ich keine Freude an dieser habe, dann verurteile ich mich selbst zu 60 Jahren der Folter. Und ich kann diese Freude nur finden, wenn ich die Arbeit in der für mich besten Weise ausübe. Natürlich ist das Beste vom Maßstab abhängig - und ich setze meine eigenen Maßstäbe. Ich übernehme nichts. Ich stehe nicht als Letzter in einer Tradition. Ich mag vielleicht am Beginn von einer stehen.")

 

Wir haben bis jetzt also gesehen, dass Ayn Rands Grundgedanken jedem Schöpferischem entgegenkommen, unabhängig davon, aus welcher Klasse er kommt. Es sollte deutlich geworden sein, dass der Unternehmer bei Rand nicht statisch als Repräsentant einer Klasse verstanden werden kann, vielmehr als typischer Repräsentant von Erfindergeist und Tätigsein. Er will selbst machen und gestalten und dies kann er eben nur im eigentlichen Maße unabhängig als Selbstständiger. Ayn Rand also auch für Proletarier?

Ja, denn nach ihrer Philosophie könnte auch dieser sein Schicksal in die eigene Hand nehmen, hätte die Möglichkeit schöpferisch zu sein und würde dies auch zu guter Letzt gratifiziert bekommen, anstatt ab ovo im Kollektivdenken fixiert zu sein und nichts als ein Klassenschicksal zu realisieren, weil es die aktuelle Klassenmoral von ihm erwartet.