Moral in relativistischen Zeiten?

Die Hauptüberzeugung des modernen Relativismus ist die, dass Ethik ein rein subjektives Thema sei. Wer diese Überzeugung vertritt, wird unweigerlich den Verstand von den Zielen der menschlichen Existenz trennen und einer Ethik Tür und Tor öffnen, in der alles erlaubt ist, wenn nur hinreichend viele oder hinreichend einflussreiche Personen dies unterstützen.

Um diese Überzeugung zu bekämpfen, muss man nach Rand erst einmal die Frage stellen, was Werte sind und wofür man Werte benötigt:

 

"Ein „Wert“ ist das, was man erlangen und/oder bewahren will. Der Begriff „Wert“ ist kein Grundsatz; er setzt eine Antwort auf die Frage „von Wert für wen und wofür?“ voraus. Er setzt eine Entität voraus, die in der Lage ist, ein Ziel angesichts einer Alternative zu erlangen. Wo es keine Alternative gibt, sind keine Ziele und Werte möglich." (Rand, Ayn. Die Tugend des Egoismus: Eine neue Sicht auf den Eigennutz (German Edition) . TvR Medienverlag Jena. Kindle-Version.)

 

Nur lebende Organismen haben Ziele und diese richten sich wiederum auf ein einziges, ultimatives Ziel: Die Aufrechterhaltung des eigenen Lebens. Dieses Ziel definiert entsprechend den Wertmaßstab eines Organismus: "Was sein Leben fördert, ist das Gute, was es bedroht, ist das Böse." (ebd.) In diesem Sinne macht nach Rand erst der Begriff "Leben" auch den Begriff "Wert" möglich, das eine "lebendige Entität ist, bestimmt, was sie tun sollte." (ebd.)

Die erste Stufe der Bewertung, was gut oder böse sei, findet durch Freude oder Leid statt und findet sich bei Pflanzen und niederen Tieren. Die zweite Stufe wird definiert durch Wahrnehmungsfähigkeit, durch die Bildung von Perzepten. Dem Tier wird durch seine Wahrnehmung automatisch ein Wertekanon zur Vefügung gestellt, was ist gut - was nützt meinem Leben, was ist böse - was gefährdet mein Leben. Es ist deshalb nicht von einzelnen Reizen oder Sinnesdata gelenkt, sondern durch eine erkennbare Realität. Bei Menschen geht es hingegen noch eine Stufe weiter. Er kann nicht automatisch (d.h. instinktbasiert) auf Perzepte reagieren, was ihm aber auch die Fähigkeit gibt, bewusste Lösungen und Entscheidungen zu finden:

 

"Die Sinnesorgane des Menschen funktionieren automatisch; das Gehirn des Menschen integriert seine Sinnesdaten automatisch in Wahrnehmungen; doch der Prozess, seine Wahrnehmungen in Begriffe zu integrieren – der Prozess der Abstraktion und der Begriffsbildung – ist nicht automatisch." (ebd.)

 

Dass das Bewusstsein nicht automatisch Entscheidungen trifft, bedeutet anders formuliert, dass es willentlich ist. Nach dieser, offensichtlich von Aristoteles adaptieren, Stufenfolge von Erkenntnis bzw. Moral, muss der Mensch, um wirklich Mensch zu sein, Bewusstsein benutzen, indem er sich fokussiert:

 

"Psychologisch gesehen ist die Entscheidung „denken oder nicht“ die Wahl zwischen „fokussieren oder nicht“. Existentiell gesehen ist die Entscheidung „fokussieren oder nicht“ die Wahl zwischen „bewusst sein oder nicht“. Metaphysisch gesehen ist die Entscheidung „bewusst sein oder nicht“ die Wahl zwischen Leben oder Tod." (ebd.)

 

Der Mensch muss Wissen anhäufen, um überleben zu können - nicht das Perzept, sondern der Begriff ist die ihm maßgebliche Natur. Begriffsbildung ermöglicht ihm, Perzepte so zu integrieren und anzuordnen, dass hierdurch ein sinnvolles und nützliches Verständnis seiner Umwelt und der Realität entsteht. Denken als Prozess wird vom Verstand gesteuert, wohingegen die Vernunft Sinnesmaterial identifiziert und integriert (ebd.). Die Vernunft ist also entscheidend und wählend und abhängig von persönlicher Entscheidung.

Ethik kann in diesem Zusammenhang nun von Rand als " eine objektive metaphysische Notwendigkeit des menschlichen Überlebens" definiert werden (ebd.) und sie kann hieraus die Maßstäbe einer objektivistischen Ethik ableiten:

 

"Der Wertmaßstab der objektivistischen Ethik – der Maßstab, an dem man misst, was gut oder böse ist – ist das Leben des Menschen; oder: Das, was für das Überleben des Menschen als Mensch erforderlich ist. Da die Vernunft die menschliche Überlebensgrundlage ist, ist das, was geeignet für das Leben eines rationalen Wesens ist, das Gute – das, was es negiert, behindert oder zerstört, das Böse. Da alles, was der Mensch braucht, von seinem eigenen Verstand entdeckt und von seiner eigenen Anstrengung produziert werden muss, sind die beiden für ein rationales Wesen unentbehrlichen Voraussetzungen zum Überleben Denken und produktive Arbeit." (ebd.)

 

Wenn es einleuchtend ist, dass nur diejenigen, die wirklich denken und produktiv arbeiten, die bewusst lebenden Menschen, auch diejenigen sind, die das Leben wählen, so sind diejenigen, die keine Entscheidung treffen, auf niederen Bewusstseinsstufen verbleiben und sich passiv oder aktiv (durch Gewalt) an den Leistungen der produktiven Menschen bereichern, diejenigen, die gegen das Leben die Zerstörung wählen. Kurzfristig wählen sie die Zerstörung ihrer Opfer, langfristig damit auch die eigene. Das Überleben des Menschen verlangt also als Prinzip eine Entscheidung für das Leben, die aber immer nur vom konkreten Individuum realisiert werden kann oder anders formuliert:

 

"Die objektivistische Ethik betrachtet das Leben des Menschen als den Wertmaßstab – und das eigene Leben als den ethischen Zweck eines jeden individuellen Menschen." (ebd.)

 

Hieraus folgt auch, dass das Individuum nicht das Mittel für die Zwecke oder das Wohlergehen anderer sein darf, "dass der Mensch um seiner selbst willen leben muss und weder sich selbst für andere noch andere für sich opfert. Um seiner selbst willen leben bedeutet, dass das eigene Glück der höchste moralische Zweck des Menschen ist." (ebd.)

 

Fassen wir an diesem Punkt noch einmal die Argumentation schematisch zusammen:

Die Aufrechterhaltung des Lebens ist das wichtigste Prinzip --> Leben bedeutet für unterschiedliche Organismen unterschiedliche Formen zu erfüllen --> Leben für die Spezies Mensch bedeutet, durch freie Wahl rational zu sein --> "Gut" ist, bewusst und rational zu denken und zu handeln.

"Böse" ist in diesem Sinne, der Entscheidung Mensch zu sein, aus dem Weg zu gehen:

 

"Das Grundübel des Menschen, die Quelle all seiner Übel, ist der Akt, den Fokus seines Geistes auszuschalten – die Aussetzung seines Bewusstseins, was nicht Blindheit ist, sondern die Weigerung, etwas sehen zu wollen, nicht Unwissenheit, sondern die Weigerung, etwas wissen zu wollen. Irrationalität ist die Ablehnung des Mittels zum Überleben und ist daher der Weg zu blinder Zerstörung: Das, was verstandesfeindlich ist, ist lebensfeindlich." (ebd.)

 

So kann jeder Mensch wählen, irrational zu sein und nicht produktiv tätig zu sein und sich einem Leben des Zufalls und blinder Wünsche und Emotionen zu überlassen. Er kann aber nicht den Konsequenzen seiner Entscheidungen entgehen, seine Emotionen werden eine unmittelbare Reflexion seiner Wertewahl darstellen, sie "sind die automatischen Resultate der vom Unterbewusstsein integrierten Werturteile des Menschen.":

 

"Das Irrationale ist das Unmögliche; es widerspricht den Tatsachen der Realität; Tatsachen können nicht durch einen Wunsch verändert werden, doch sie können den Wünschenden zerstören. Wenn ein Mensch Widersprüche wünscht und verfolgt – wenn er seinen Kuchen behalten und ihn gleichzeitig essen will – löst er sein Bewusstsein auf; er verwandelt sein Innenleben zu einem Bürgerkrieg blinder Mächte, die in dunklen, unzusammenhängenden, sinnlosen Konflikten verstrickt sind (was heute bezeichnenderweise der innere Zustand der meisten Menschen ist)." (ebd.)

 

Glück entsteht demnach durch rationale Wertewahl, die per definitionem widerspruchsfrei ist. Resultierende Emotionen sind folglich "widerspruchsfreie Freude, Freude ohne Schuld und Reue" (vg. Atlas Shrugged).

Nur durch einen rationalen Egoismus kann also eine glückliche Existenz gelingen. Dieser rationale Egoismus kann gar nicht gegen jemanden gerichtet sein. Er baut sich nicht auf der Annahme auf, dass andere Menschen meine Wünsche zu erfüllen hätten oder ich mein Glück nur durch Übervorteilung anderer finden würde. Im Gegenteil liegt die Glücksquelle ja gerade darin, für sich selbst das Beste, Schöpferischste und Produktivste zu tun und nur daran gemessen zu werden. Nach dieser Anschauung gibt es auch keinen Interessenkonflikt, weil der rationale Egoist nicht das Unverdiente sucht.

Dies scheidet die objektivistische Ethik ganz klar von einem übervorteilenden und Macht suchenden Egoismus nach Nietzsche oder allen ethischen Systemen der Selbstlosigkeit ("Der moralische Kannibalismus aller hedonistischen und altruistischen Lehren liegt in der Prämisse, dass das Glück des Einen das Leid des anderen bedingt.")

Deshalb schließt die Objektivistische Ethik auch jede Form der Gewalt a priori aus, während die anderen ethischen Systeme per se auf der Ausbeutung anderer Menschen aufbauen. Egal, ob Lamm oder Löwe, nie darf nach ihnen der Mensch Mensch sein, nie das Individuum Individuum bleiben. 

Auch ergibt sich ein interessante Konzept der Liebe, dass an dieser Stelle nicht besprochen werden soll (schauen Sie sich aber gerne dazu unten stehendes Video aus einem Interview mit Ayn Rand an).

 

Wie deutlich geworden sein sollte, finden wir im Objektivismus eine spannende und aktuelle Konzeption von Ethik, die unmittelbar mit Realismus verbunden ist oder um es mit Ayn Rand zu sagen: Ethik ist kein subjektiver Luxus, sondern eine objektive Notwendigkeit.

Diese Anschauung steht kategorisch gegen alle zurzeit in Praxis vorhandenen Moralsysteme. Hier finden wir z.B. ein Anything goes, Wünsche und Launen sind maßgeblich und die Realität und mit ihnen andere Menschen hat sich diesen zu unterwerfen. Oder wir finden den Appell an die Solidarität, das weltliche Surrogat der krichlichen Caritas, die undifferenziert verlangt, sich selbst zum Wohle der Anderen zurückzustellen. Oder aber es wird wieder ein Ausschalten der eigenen Rationalität, die Linientreue zum Staat propagiert, die mit ausgesuchten wissenschaftlichen Ergebnissen als vermeintliche Autorität die Menschen auf eine Norm des Verhaltens zu bringen sucht.

Die objektivistische Ethik ist in Anbetracht der massiven Gewalt, mit der diese unterschiedlichen Systeme im Alltag und in der Politik aufeinanderprallen, eine unbedingte Alternative. Selbst denken, selbst urteilen, selbst entscheiden - war und ist die Aufgabe!